Antisemitismus ist Normalität

Heute las ich in der jüdisch-amerikanischen Zeitung «Forward», dass der englische Rabbiner Zvi Solomons aus Reading/ Berkshire, auf Twitter die Hashtag-Kampagne #FirstAntisemiticExperience initiiert hat. Die Beiträge, die daraufhin getweetet wurden sind schockierend, aber nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, dass allein in New York antisemitische Straftaten um 22% zugenommen haben. Wie die Nachrichtenseite «Bloomberg» berichtete, wurden 2018 gegen Juden im «Big Apple» mehr Straftaten verübt, als gegenüber allen anderen Minderheiten zusammen.

Denn wir leben in einer Zeit, in der nichtjüdische Antisemitismusbeauftragte, es ist in meinen Augen eine Tragödie, dass es solche «Antisemitismusbeauftragte überhaupt braucht, bestätigen, was wir Juden seit Langem predigen: Dass es schon gefährlich ist Jude zu sein und von an Stunde noch gefährlicher werden wird, Jude zu sein. In den meisten Staaten Europas findet jüdisches Leben grösstenteils hinter Panzerglas statt, rund um die Uhr bewacht von Polizei oder Militär. Der Ansicht von Pater Patrick Desbois, eines Jesuiten, der seine akademische Karriere der Erforschung der Schoa gewidmet hat, Professor an der Universität von Georgetown ist und früher das französische, bischöfliche Komitees für katholisch-jüdische Beziehungen geleitet hat, leben wir in einer Zeit, in der Antisemiten dafür bereit sind ins Gefängnis zu gehen oder selber zu sterben, um Juden ermorden zu können. Pater Desbois, ein Experte über den «Holocaust durch Kugeln», berichtete im «Algemeiner» über eine Konversation, die er vor einiger Zeit mit einem katholischen Geistlichen in Polen führte. In dieser Konservation drückte der Geistliche sein Bedauern darüber aus, dass Hitler das Konzentrationslager in Auschwitz errichtet hatte. Für den Geistlichen war Auschwitz ein Fehler, denn aus Auschwitz kamen Überlebende zurück. Die Juden die von Deutschen und ihren Kollaborateuren in den Wäldern erschossen wurden, kamen nicht als Überlebenden zurück. Für Pater Desbois machte diese Aussage, trotz ihrer Brutalität, Sinn, denn sie bestätigte sein Lebenswerk. Für Pater Desbois ist der «Holocaust durch Kugeln», an Orten wie Baby Yar und Ponari, mit dem Mord an Juden in Pittsburgh durch den rechtsradikalen Robert Bowers, durchaus vergleichbar. Das ist besorgniserregend!

Noch besorgniserregender ist, dass wir Juden mit einer zunehmenden Gleichgültigkeit konfrontiert werden, was den Antisemitismus angeht, den wir erdulden. Dies wurde von einer CNN-Studie bestätigt. Die Mehrheitsbevölkerung nimmt es als Selbstverständlichkeit hin, dass wir Juden von Radikalen aller Couleur als Fussabtreter und Sündenböcke benutzt werden. Mehr noch: In einer Vielzahl von Menschen schlummern antisemitische Ressentiments, die denen eines Hasspredigers in nichts nachstehen. Diese antisemitischen Ressentiments treten an die Oberfläche, so bald diese Menschen auf einen echten Juden aus Fleisch und Blut treffen. Im sonstigen Leben verhalten sich vollkommen normal, aber ihr Verhalten kippt, sobald sie auf etwas Jüdisches treffen.  Ein paar Beispiele: Die Frau, die mich an den Haaren gezogen hat, um nachzusehen, ob ich eine Perücke trage, bekommt ein Exzellenzstipendium. Und eine Frau, die mich gefragt hat, weshalb wir Juden Matzot mit dem Blut von nichtjüdischen Kindern machen, ist Sprachlehrerin, die Flüchtlinge unterrichtet. Die Mutter einer Bekannten wurde mitten auf der Strasse bespuckt, weil sie es gewagt hatte in der Öffentlichkeit einen Magen David zu tragen. Meine Erfahrung zeigt mir, dass diese Leute, weil ich die beiden Damen, die mich verbal und physisch attackiert hatten zur Rede stellte und ein «Jetzt hab dich nicht so» als Antwort bekam, sich effektiv nicht als Antisemiten sehen. Generell ist der Umgang mit Opfern von Antisemitismus von Empathielosigkeit geprägt. Dies führt dazu, dass sich viele Opfer von Antisemitismus zurückziehen und manche schliesslich (Selbst-)Ghettoisierung betreiben. Ich persönlich betreibe wahrlich keine (Selbst-)Ghettoisierung, doch kann ich es nachvollziehen, dass manche Menschen in ihrer Verzweiflung zu solchen Strategien greifen. Dabei ist (Selbst-)Ghettoisierung ein Teil des Teufelskreises, in dem wir aufgrund der Normalität des Antisemitismus, stecken. Ein Beispiel: Zuallererst, trotz meiner Erfahrungen mit Antisemitismus und dem Umgang der Lehrkräfte damit halte ich die Idee einer Volksschule für eine im Grunde genommen exzellente Idee. Denn es ist gut, wenn Kinder verschiedener Herkunft, zumindest für eine Weile, gemeinsam zur Schule gehen und so Toleranz und Akzeptanz lernen können. Ausserdem könnte es, wenn man notgedrungen, immer mehr jüdische Kinder auf jüdische Privatschulen schicken würde, das antisemitische Ressentiment bestätigen, dass alle Juden reich seien. Denn sind wir ehrlich: Privatschulen haben den Beigeschmack, dass sie die Kaderschmieden von Eliten sind.

Des Weiteren würde es langfristig den Staat und die Gesellschaft aus der Verantwortung nehmen, sich um die Sicherheit von jüdischen Kindern zu kümmern. Das wäre eine gefährliche Entwicklung. Die übrigens auch das Problem des Antisemitismus nur verschieben würde auf einen späteren Zeitpunkt und einen anderen Ort, wie zum Beispiel in Richtung Universitäten, Arbeitsplätze und Supermärkte. Ich wage es zu bezweifeln, dass im Erwachsenenalter so noch ein unverkrampfter und akzeptabler Umgang mit Juden gelernt werden könnte. Und genau so bleibt Antisemitismus leider Normalität. Eine Normalität, die durch verschiedene Studien und Hashtag-Kampagnen, wie die erwähnte #FirstAntisemiticExperience belegt ist und doch von der Mehrheit der Gesellschaft kaum zur Kenntnis genommen wird.

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