Davos und der Antisemitismus – Bekenntnisse einer Europäerin zweiter Klasse

Kürzlich gab es in Davos, das ist in der Schweiz, eine Thora-Einweihung, bei der viele orthodoxe Juden anwesend waren, und weil es eine Prozession war, bei der gesungen, getanzt wurde und Freude herrschte, wurde für eine Weile die Hauptstrasse blockiert. Dies sorgte bei einigen Davosern für Unmut, dem sie sich mit Kommentaren Luft machten wie: «Wir sind doch nicht in Israel. Wir sind in der Schweiz». Oder «Unsere Heimat ist verloren.» Diese Reaktion überrascht mich nicht. Die Leute haben nichts gegen Juden, d.h. nichts gegen Juden, die jüdisch aussehen (wie ein Jude aussieht bestimmen allerdings Nicht-Juden, mir wird zum Beispiel attestiert, eine jüdische Nase zu haben.). Allerdings soll der Jude nicht praktizierend sein, insbesondere «kein koscheres Fleisch, denn das sei Tierquälerei“. Die Leute haben nichts gegen Juden, ausser die Juden sind nun einmal da, verhalten sich nicht so, wie die Leute wollen und haben auch noch die Unverschämtheit, diese «Chuzpe», frei rumzulaufen und mal für einen Anlass, für kurze Zeit, die Hauptstrasse zu blockieren.

Dies wiederum führt dazu, dass das antisemitische Ressentiment aktiviert wird, das in vielen unbewusst schlummert. Denn wären irgendwelche Schwinger durchs Dorf gezogen und hätten dabei die Hauptstrasse blockiert, wäre die Reaktion eine andere gewesen, da bin ich mir sicher. An Juden fühlt man sich berechtigt, sein Mütchen abzukühlen, uns zu erziehen, weil wir ja bekanntermassen so grausam und primitiv sind, den Tieren gegenüber wie den Arabern, ach was, gegenüber den Muslimen, den Nicht-Juden allgemein.

Rituale und Praktiken, die wir Juden seit Jahrhunderten, auch in Europa, praktizieren, werden zur Desposition gestellt. Das zeigt mir, dass wir Juden für viele, bestenfalls, geduldete Fremde sind. Fremde, die alles erdulden müssen, denn zum Erdulden sind wir da. Und wenn man genug von unserer Präsenz hat, dann vertreibt man uns, hat schliesslich schon während der «Reconquista» geklappt. Wenn wir Juden uns dann erdreisten und versuchen zurückzukehren, verunmöglicht man uns das, wie man jetzt bei der Affäre sieht um die Juden, die während der Nazizeit nach Grossbritannien fliehen mussten und nun Deutsche werden wollen. Sie berufen sich dabei auf das Grundgesetz, aber die deutschen Behörden lehnen das meist ab. In dem man zum Beispiel immer noch jüdische Frauen, die Briten geheiratet haben, und deren Nachkommen nicht diskriminiert. Denn er war die ganze Zeit da und hat sich nur versteckt und Nein, ich rede hier nicht von Hitler. Ich rede hier von Antisemitismus. Ja, ich bin mir bewusst, dass diese Feststellung mich nicht gerade beliebt machen wird. Aber es ist eine offensichtliche Tatsache und es ist auch Tatsache, dass Antisemitismus eine bequeme Art der Diskriminierung ist, die in Europa Tradition hat, wie die Beispiele aus der Schweiz und aus Deutschland zeigen. Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass Juden einen Lkw kapern, um in einen Weihnachtsmarkt zu fahren, um dort Nicht-Juden zu ermorden.

Dieser Antisemitismus ist es auch, der mich manchmal wie eine Europäerin zweiter Klasse fühlen lässt, deren Präsenz von der Mehrheitsgesellschaft oft nur geduldet und manches Mal in Frage gestellt wird. Das, obwohl ich die Staatsbürgerschaft der Schweiz habe, hier geboren wurde, Steuern zahle, wähle und, ganz offensichtlich, eine der vier Landessprachen, fliessend beherrsche. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dieses Gefühl ist keine neues Gefühl, sondern ein leider allzu vertrautes und leider bin ich auch nicht die erste Jüdin, die so denkt und fühlt. Und nein, das ist nicht meine Schuld, dass dem so ist, denn weder waren wir Juden anno dazumal «primitiv», «Brunnenvergifter», «Propheten»- oder «Gottesmörder», noch sind wir das heute. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich daran zu gewöhnen, dass wir Juden existieren und so weit wie möglich zu akzeptieren und nicht zu versuchen uns zu erziehen, wie unverschämte Kinder. Um Konrad Adenauer zu zitieren: «Nehmen Sie die Juden, wie sie sind, es gibt keine anderen (mehr)».

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