Naftali Bennet und die Israelkritiker

Liebe Leserinnen und Leser!

Wie meistens gilt: Der König ist tot, es lebe der König. Nur dass dieses Mal Bibi wirklich verloren hat und der neue König höchstwahrscheinlich Naftali Bennet heissen wird, da allem Anschein nach Yair Lapid und Naftali Bennet sich den Posten des Premierministers teilen werden, um Benjamin Netanyahu von Macht und Würden effektiv zu verbannen.

Was wird das bei der bizarren Spezies der «Israelkritiker» auslösen, dass das wichtigste Amt im Judenstaat Israel nun von einem Mann ausgeübt wird, der auch im Alltag Kippa trägt und in einer Siedlung ausserhalb der «Grünen Linie» lebt? Zuallererst wird dieser Menschenschlag, der sich der konstanten Schwarzmalerei des Juden unter den Staaten hingibt, feiern, dass «King Bibi» fürs Erste besiegt ist, dann kommt für die «Israelkritiker» das böse Erwachen:

Denn die Tatsache, dass es so viele Wahlen, Pattsituationen und diese bunt zusammengewürfelte Koalition brauchte, um Benjamin Netanyahu loszuwerden, zeigt etwas davon auf, neben dem offensichtlichen «Balagan», sprich Chaos, das sich israelische Gesellschaft nennt: In Israel herrscht ein Grundkonsens, was Sicherheitspolitik angeht. Nämlich: Das iranische Regime ist gefährlich und darf nie in den Besitz von Atomwaffen gelangen, darin sind sich Bennet, Lapid und Bibi und die meisten Israelis einig. Auch ist man sich in Israel einig, dass es nur dann zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommt, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde der Gewalt abschwört und Terrorgruppen wie der Islamische Jihad, die Hamas und die PLFP entwaffnet werden und Israel die Kontrolle über den Golan und das Jordantal behält. Das alles sind Meinungen, die in Israel zum Mainstream gehören, ob es nun den «Israelkritikern» gefällt oder nicht.

Das wiederum bedeutet, dass wir uns auch in Zukunft auf die ungefragte und oft ignorante «Israelkritik» einstellen müssen, der es offensichtlich egal ist, dass aufgrund Russlands Proxykrieg alleine in der Ukraine über 13 000 Menschen getötet wurden und es täglich mehr werden, aber die sich am Judenstaat Israel ihr Mütchen kühlen wollen. Zum Beispiel kann ich mir gut vorstellen, dass nun «Israelkritiker» in ihrer masslosen Arroganz und Ignoranz behaupten werden, dass es nur deshalb keinen Frieden im Nahen Osten geben würde, weil der jetzige Premierminister in einer Siedlung ausserhalb der «Grünen Linie» lebt oder offensichtlich ein orthodoxer Jude ist. Was auch immer es sein wird, es wird wie immer den Terror von Hamas, Islamischem Jihad und anderen Proxies des Regimes von Teheran zur Seite schieben. Auch wird der Antisemitismus, der sich in den letzten Wochen auf den Strassen Hamburgs, Londons und New Yorks wie ein Gewitter entladen hat, zu «Israelkritik» relativiert werden.

Währenddessen wird Israel, im Gegensatz zu seinen Nachbarn wie zum Beispiel der Libanon, weiterhin blühen und gedeihen, ob nun mit oder ohne «Bibi HaMelekh» (dt. König Bibi). Es ein Zeichen von Israels Stärke und Resilienz, dass es eben nicht auf einen Mann, eine Person an der Spitze ankommt, sondern Israel trotz allem «Balagan» ein funktionierender Rechtsstaat, eine Demokratie und kein Apartheid- und Pariastaat ist. Dagegen sind die berühmten «Drei Nein von Khartum» Geschichte und immer mehr Staaten im Nahen- und Mittleren Osten normalisieren ihre Beziehungen zu Israel, auch aufgrund der Bedrohung durch das Regime in Teheran.

Zu guter Letzt, was das Duo Naftali Bennet und Yair Lapid angeht: Wenn die israelischen Bürgerinnen und Bürger dieses Duo satthaben, dann wird es eben nicht wiedergewählt werden. Denn eines ist sicher, neben dem «Balagan» in der israelischen Gesellschaft: Dass Israel schon jetzt mehr demokratische Wahlen hatte als alle Nachbarstaaten in der Region zusammengenommen.

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Nachtrag zu meinen offenen Brief an Mustafa Yeneroglu

Geehrte Leser!

Als Nachwirkung meines offenen Briefes an den ehemaligen AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu erreichte mich auch Kritik. Mir erklärt wurde, dass ich mir nicht anmassen dürfe, einen konservativen Sunniten so zu kritisieren, wie ich es in meinem offenen Brief an Herrn Yeneroglu getan hätte, da es für Herrn Yeneroglu wahrscheinlich schon schwer genug gewesen sei mit seinem Hintergrund der AKP den Rücken zu kehren.

Dazu möchte ich erwidern: Ich kritisiere in meinem Blog und in meinen Beiträgen, wen und was ich will, und in diesem Fall kritisiere ich eben Mustafa Yeneroglu. Herr Yeneroglu erreichte im deutschsprachigen Raum einige Berühmtheit, indem er für das AKP-Regime Apologetik betrieb und, unteranderem, dass mehr als umstrittene Verfassungsreferendum von 2017 unterstützte, dass Erdogan eine noch nie dagewesen Machtfülle verlieh. Hinzu kommt, dass Mustafa Yeneroglu zwar in Bayburt geboren wurde, aber in Köln aufgewachsen ist und auch dort und in Izmir Rechtswissenschaften studierte. Als ausgebildeter Jurist sollte dem Herrn Yeneroglu Diskurs mit Andersdenkenden und das Infragestellen von Ideologien nicht fremd sein. Herr Yeneroglu bezeichnet sich als Gastarbeiterkind, das bedeutet in seinem Fall aber nicht, dass er in Anatolien Schafe gehütet hat. Ganz im Gegenteil: Dieser Mann konnte studieren und hat studiert und war gewählter Politiker für eine Partei, deren Führer dafür bekannt wurde, das umstrittene Gedicht des türkischen Dichters Ziya Gökalp bei einer Wahlveranstaltung rezitiert zu haben, nun seit mehr als 16 Jahren seine Herrschaft ausbaut und in dieser Zeit immer mehr zur Karikatur eines orientalischen Despoten verkommen ist.

Ich, eine bisexuelle, jüdische Frau mit Migrationshintergrund, bin deshalb nicht gewillt, bei Mustafa Yeneroglu einen «Rassismus der tieferen Erwartungen» zu praktizieren, nur aufgrund seiner Herkunft und weil dieser bereit war, allen Warnungen zum Trotz sich jahrelang zum Steigbügelhalter des AKP-Regimes im deutschsprachigen Raum zu stilisieren! Stattdessen kritisiere ich das, was notwendig ist, und diesem Fall ist es notwendig, den Chauvinismus innerhalb der türkischen Gemeinschaft, sowohl auf türkischem Boden wie in der Diaspora, zu kritisieren. Denn es ist dieser Chauvinismus, der zum Erfolg der AKP führte und alle kritischen Stimmen, vor allem wenn diese Stimmen von Minderheiten wie den Aleviten, Kurden und anderen stammen, ignoriert oder zum Schweigen bringt.

Darum halte ich Mustafa Yeneroglus jetzige Verlautbarung für absolut heuchlerisch: „Das alles ist eine Frage der Sozialisation. Ich bin nicht in einem System autoritärer Erziehung aufgewachsen. Ich wurde in einem anti-autoritären Umfeld erzogen, wo man das Wahre sagt und dafür streitet». Zumal ich mich noch an das Interview erinnere, das Herr Yeneroglu dem «Migazin» gab und in dem er jammerte, dass die AKP auf ihn zugekommen sei und die CDU nicht. Denn es war, wie ich schon früher geschrieben habe, spätestens seit den Ergenekon-(Schau-)Prozessen offensichtlich, dass die AKP keine gemässigt «islamische»-  oder gar konservative Partei ist, sondern eine anti-demokratische Sammelbewegung der sogenannten «Türkischen Synthese», d.h. von National-Islamisten, und dieser Sammelbewegung schloss sich Herr Yeneroglu 2015 an, nach den Ergenekon-(Schau-)Prozessen!

Jetzt, nachdem Erdogan endgültig die Allianz mit dem Westen kappt, den Vertrag von Lausanne in Frage stellt und nun, endgültig zur Karikatur eines orientalischen Despoten verkommen, seinen Schwiegersohn zum Finanzminister ernannt hat, das AKP-Regime zu kritisieren ist, in meinen Augen, ein bisschen spät.

Generell bin ich es leid, wenn die Wähler von Autokraten wie Putin und Erdogan konstant in Schutz genommen werden und ihre Wahlentscheidung, die dazu geführt hat, das Russland seit bald zwanzig Jahren und die Türkei seit gut sechzehn Jahren von den gleichen Despoten mehr schlecht als recht regiert werden, relativiert wird! Da wächst eine Generation von Menschen heran, die aufgrund des Chauvinismus der Mehrheitsbevölkerung der dortigen Staaten nichts anderes kennt als Putin und Erdogan! Schlimmer noch: Aufgrund der expansiven und irredentistischen Politik von Moskau und Ankara leiden nicht nur oppositionelle Russen und Türken, sondern auch die Menschen in Georgien, in der Ukraine und in Rojava, da Russland respektive die Türkei dort einmarschiert und nachweislich an ethnischen Säuberungen beteiligt sind und waren. Alles in allem ist es billig, sich nun aus der Verantwortung zu stehlen und darum bleibe ich bei meiner Kritik.