Von Tribalismus zerfressen

Geehrte Leser!

Die Konversation mit einem anderen Kaukasier, nämlich mit einem Tschetschenen, brachte mich auf dieses Thema, das, obwohl es für viele Tragödien im Kaukasus und im Nahen- und Mittleren Osten verantwortlich ist, durch den Islamismus, der, da muss man mich nicht falsch verstehen, ein riesiges Problem ist,  und dergleichen überschattet wird. Des Weiteren haben sich einige iranische Bekannte bei mir beschwert, dass ich angeblich in letzter Zeit auf meinem Blog nur auf dem Iran rumhacken würde.

Heute ist deshalb Tribalismus und nicht Tribadie, oder der Iran, das Hauptthema. Anders ausgedrückt:

Warum sind Armenien, Aserbaidschan und Georgien (halbwegs) funktionierende, souveräne Staaten, und Tschetschenien, Ossetien und Tscherkessien nicht?

Warum sind der Iran* und die Türkei Staaten, und Kurdistan kein Staat?

Warum sind Afghanistan und Somalia kurz vor der Erosion?

Die Antwort darauf, der kleinste gemeinsame Nenner, der die problematischen Länder und Ethnien verbindet, ist der Tribalismus.

Diesen Tribalismus nur mit der Islamisierung der genannten Staaten und Ethnien zu erklären, ist mir persönlich zu unterkomplex, zumal Staaten wie die Türkei, Aserbaidschan, Ägypten, Tunesien, Marokko und andere Staaten trotz Islam nicht von Tribalismus zerfressen sind. Ausserdem sind die Osseten im Kaukasus ein mehrheitlich christliches Volk und trotzdem ist ihre Kultur extrem tribalistisch geprägt. Die Aserbaidschaner, ein schiitisches Turkvolk, die kaukasischen Nachzügler, die von Safawiden und den nachfolgenden Dynastien des persischen Reiches im Kaukasus angesiedelt wurden, als die Perser die einheimischen Georgier, Tscherkessen und Armenier versklavten und ins iranische Kernland verschleppten , weil die schiitischen Perser dachten, dass die schiitischen Aserbaidschaner loyaler gegenüber Isfahan und Teheran sein würden, als die konstant aufständischen Georgier, Tscherkessen und Dagestanier, sind hingegen kaum tribalistisch.

Nun könnte man den Tribalismus verschiedener kaukasischer Völker als Folklore abtun, die ähnlich wie Lammfleisch mit Knoblauch, die Chokha (in Georgien auch «Talavari» genannt) und Sprachen mit einer geradezu frivolen Anzahl von Konsonantenclustern zur kulturellen DNA des Kaukasus gehört. Zumal der Kaukasus eine Melange aus verschiedenen Ethnien und Religionen, wie dem schiitischen Islam bei den Aserbaidschanern, dem sunnitischen Islam hanafistischer Schule bei den Tscherkessen, Tschetschenen und Lazen, der armenisch-apostolischen Kirche der Armenier und dem georgisch-orthodoxen Christentum vieler Georgier. Dem aber widerspricht die Tatsache, dass Staaten wie Armenien, Aserbaidschan und Georgien trotz einiger Probleme wie Umweltverschmutzung, Homophobie etc. im Grossen und Ganzen funktionierende Staaten sind. Aserbaidschan sogar als Nachzügler. Die Existenz der südkaukasischen Republiken zeigt somit, dass der Tribalismus nicht integraler Bestandteil des Kaukasus ist.

Verlassen wir den Kaukasus und wenden uns einem Land am Horn von Afrika zu, das seit Jahrzehnten aufgrund eines konstanten, blutigen Bürgerkriegs nicht zur Ruhe kommt. Die Rede ist von Somalia. Wie viele Länder auf dem afrikanischen Kontinent hat Somalia unter dem Kolonialismus gelitten, und die Grenzen vieler afrikanischer Staaten wurden von Kolonialherren am Reissbrett bestimmt, aber Somalia hatte Glück im Unglück, denn de facto ist Somalia, im Gegensatz zu Ländern wie Ghana, Südafrika, Kenia und Senegal, monoethnisch und monoreligiös. Somalia wird praktisch nur von Muslimen der somalischen Ethnie bewohnt und trotzdem kommt das Land seit dem Tod des Diktators Siad Barre nicht zur Ruhe, denn eine giftige Mischung aus Islamismus und Tribalismus zerreisst Somalia.

Es ist auch der Tribalismus, der verhindert, dass Kurdistan ein eigenständiger, souveräner Staat wird, der dem kurdischen Volk endlich Zuflucht und Würde verschaffen könnte. Stattdessen sorgen das Stammesdenken und die Abgrenzung zu anderen Clans dafür, dass es die Kurden bis heute nicht schaffen einen eigenen Staat auszurufen und stattdessen aufgeteilt sind zwischen der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien oder gar Schutz in der Diaspora suchen müssen. Zuletzt konnte man beobachten wohin dieser Tribalismus führt, als kurz vor der Schlacht von Kirkuk, im Jahr 2017 (!) die mit dem Talabani-Clan assoziierten Peschmerge Insubordination begingen und dann gar von ihren Posten desertierten. Dies wiederum führte dazu, dass Kirkuk leicht von den Truppen und Milizen der irakischen Zentralregierung eingenommen werden konnte. So sind heute die Kurden immer noch auseinandergerissen und zwar nicht nur durch die Einwirkung von aussen, sondern auch durch ihre eigene Unfähigkeit, welche im tribalistischen Denken ihren Ursprung hat.

Ein anderes Beispiel für meine These ist der Vergleich zwischen Afghanistan und dem Iran, zwei ungleiche Bruderstaaten, heimgesucht von unterschiedlichen und doch gleichen Problemen. Im angelsächsischen Raum würde man dazu sagen «Same same but different». Denn sowohl Afghanistan, wie auch der Iran sind Staaten mit einer muslimischen und persischsprachigen Mehrheitsbevölkerung, die im Mittleren Osten liegen. Da hören aber die Gemeinsamkeiten auch auf, denn während in der sogenannten Islamischen Republik Iran der Irredentismus Urstände feiert, ist Afghanistan auf dem besten oder schlechtesten Weg dazu, ein gescheiterter Staat zu werden. Eben aufgrund des genannten Irredentismus, der dazu führt, dass im mehrheitlich sunnitischen Afghanistan die schiitischen Hazara nun de facto Freiwild sind, die Zentralregierung in Kabul praktisch machtlos ist und Bündnisse zwischen den verschiedenen Clans und Ethnien, wie Paschtunen, Tadschiken, Turkmenen und dergleichen, so lange halten, wie man braucht um eine Tasse Chay auszutrinken. So lange man den Tribalismus und den Islamismus nicht gleichzeitig und effektiv bekämpft, gibt es für Staaten wie Afghanistan keine Möglichkeit des Fortschritts. Stattdessen wird das Land weiterhin von Regression heimgesucht werden, jetzt da inzwischen auch der sogenannte «Islamische Staat» sich in Afghanistan heimisch gemacht hat, als ob die Afghanen nicht genug unter den Taliban gelitten hätten.

So wie Afghanistan von Erosion betroffen ist, aufgrund der oben beschriebenen, giftigen Mischung aus Islamismus und Tribalismus, so wird es den Völkern des Kaukasus, wie den Tscherkessen, Tschetschenen und Osseten und den Kurden, denen es nicht gelingt Staatlichkeit und internationale Anerkennung zu erlangen, so lange sie Geiseln ihres ureigenen Stammesdenken sind. Auch wenn der Chauvinismus von Staaten wie Russland, der Türkei und anderen Ländern schmerzt, so kann dieser Chauvinismus nicht erklären, warum diese Ethnien es bis heute nicht geschafft haben den Tribalismus endgültig hinter sich zu lassen, denn mit diesem Tribalismus spielt man seinen Gegnern nur in die Hände. Ja, selbst der Genozid von 1864 an den Tscherkessen kann nicht erklären, warum diese es bis heute nicht geschafft haben, Staatlichkeit zu erlangen, die Armenier nach dem Genozid von 1918 aber schon. Es ist der Tribalismus, der hier im Weg ist, und dies muss endlich eingesehen werden. Sowohl von den Betroffenen selber, wie auch von den Menschenrechtsaktivisten von ausserhalb. Und bevor man mir Rassismus vorwirft: Das sage ich als jemand, der selber kaukasischer Herkunft ist und dem bewusst ist, dass Gegenden wie der Kaukasus immer noch als Mündel von gescheiterten Imperien angesehen werden und deshalb das kaukasische Narrativ kaum gehört wird. Aber durch regressive Ideologien macht man die Situation nur noch schlimmer, als sie jetzt schon ist.

*Man möge mir verzeihen, dass ich den Iran wieder erwähnt habe, aber ich bin ein «Aniran» und der mythologische Volksheld der Georgier ist nun mal «Amiran», deshalb bin ich da unverbesserlich.

Ein paar Anmerkungen zu den Ereignissen in Tbilisi.

Seit einigen Tagen wird in Georgien gegen die jetzige Regierung demonstriert, es gab schon mehr als 200 Verletzte und der Parlamentssprecher, Irakli Kobachidse, ist zurückgetreten. Als Auslöser, quasi der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, können die Ereignisse vom 19. Juli gesehen werden. An jenem Tag gastierte eine Delegation christlich-orthodoxer Politiker in Tbilisi, der Hauptstadt Georgiens. Dabei durfte der russische Abgeordnete Sergei Gavrilov eine Rede auf Russisch halten und auf dem Platz sitzen, der sonst dem Parlamentssprecher vorbehalten ist. Dies sorgte dafür, dass zuerst Oppositionspolitiker wütend das Parlamentsgebäude verliessen und es daraufhin zu Demonstrationen kam, bei denen nicht nur der Rücktritt von Kobachidse gefordert wurde, sondern auch den Rücktritt des Innen- und Premierminister, sowie die Auflösung des Parlaments und vorgezogene Wahlen.

Für Aussenstehende mögen dieses Verhalten und solche Forderungen der georgischen Bevölkerung eine überempfindliche Reaktion sein, doch man darf eines in diesem Fall nicht vergessen: Russland okkupiert völkerrechtswidrig durch seine Proxies zwanzig Prozent des georgischen Territoriums. Demzufolge ist Russland ein Aggressor und das Verhalten des russischen Abgeordneten Gavrilov im georgischen Parlament eine Provokation. Zwar versuchten georgische Regierungspolitiker die Demonstranten zu beruhigen, aber ihre Worte heizten die unzufriedene Menge nur noch mehr an. Vielen Georgiern scheint es, dass der Parteivorsitzende der Regierungspartei, Bidzina Ivanishvili, der keinen offiziellen Regierungsposten hat, aber eine Menge Hörige innerhalb «seiner Partei», das Land führt wie sein Unternehmen und Posten vergibt nicht aufgrund von Qualifikation, sondern ob der Betreffende bereit ist ihm gegenüber untertänig zu sein. Bei Kritik spielt Bidzina Ivanishvili einfach die Karte des guten, orthodoxen Christen…

Orthodoxer Chauvinismus. Georgiens wunder Punkt. Egal was Russland tut: Die Religion eint diese beiden Staaten und dann kommt Russland, einem Stalker-Ex-Freund gleich, ums Eck und flüstert: „Ja, ich bin schlimm, aber wir sind beide Christen und die anderen (Iran und die Türkei sind schlimmer). Damit spielen Russland und viele orthodoxe Chauvinisten innerhalb Georgiens auf die jahrhundertelange Unterdrückung Georgiens durch das osmanische- und Perserreich an. Nicht nur haben diese beiden gescheiterten Imperien Georgien so aufgeteilt, wie einen Kuchen, sie haben auch circa 2/3 der damaligen Gesamtbevölkerung verschleppt und versklavt. Georgiens Fürsten lebten damals in konstanter Angst davor, dass ihr eigenes Land entvölkert wird, wegen der chauvinistischen Politik der muslimischen Imperien. Bis 1783 der georgische König, Erekle II, sich dazu veranlasst sah bei Russland um Schutz zu ersuchen, weil er sich von einem christlichen Reich die Milde erhoffte, die es von den Persern und Osmanen nicht gab. So kam Georgien vom Regen in die Traufe. Denn das Bündnis mit Russland ist für Georgien toxisch. Nicht nur ist Russland selbst Geisel seines ureigenen Chauvinismus und der Xenophobie, sondern verfolgt eine irredentistische und imperialistische Politik, die dazu führt, dass Russland nach dem Motto agiert, «Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlage ich dir die Fresse ein», wie die jetzige Okkupation von georgischem und ukrainischem Territorium zeigt.

Interessanterweise sind die Kirchen in vielen christlich-orthodoxen Staaten so stark und haben so viel Einfluss auf die Politik wie noch nie in der Geschichte. Denn innerhalb christlich-orthodoxer Staaten wird, im Gegensatz zum Katholizismus, nicht der Patriarch der jeweiligen Landeskirchen oder der Patriarch von Konstantinopel als Stellvertreter Christi auf Erden gesehen, sondern der weltliche Herrscher. Somit zogen in der Vergangenheit die Kirchen in Staaten mit christlich-orthodoxer Bevölkerungsmehrheit im Kampf gegen die weltlichen Herrscher immer den Kürzeren. Heute hingegen mischt sich die Kirche gerne ins Tagesgeschehen ein und hetzt zum Beispiel gegen die jährliche Organisation der «Pride Parade» in Tbilisi.
DARUM braucht Georgien die Säkularität, wie die Luft zum Atmen. Wie bereits der gute Noe Jordania wusste, der erste Premierminister der Demokratischen Republik Georgiens, dessen Rechtsnachfolger die Republik von Georgien heute ist, schon vor hundert Jahren. Demzufolge würden mehr Säkularität und eine neue Regierung Georgien jetzt am Besten dienen. Denn mit jedem weiteren Tag, den sich Bidzina Ivanishvili und seine Lakaien an der Macht halten, wächst der Zorn in der Bevölkerung gegenüber der jetzigen, bigotten Regierung.