Die Vergessenen Europas

«Die Revolution verschlingt Saturn gleich ihre eigenen Kinder», dieses Zitat wird dem Revolutionär und Rechtsanwalt Pierre Verginaud zugeschrieben, der diese Worte angeblich sprach, als er zum Schaffot geführt wurde. Diese Worte haben heute in Europa traurige Aktualität. Denn in vier Entitäten auf europäischem Boden wird noch die Todesstrafe vollstreckt, nämlich in Abchasien, Belarus und den sogenannten «Volksrepubliken» in Donetzk und Lugansk. Diese vier Entitäten haben neben der Todesstrafe noch eine Gemeinsamkeit: Sie alle sind Kreml-Proxies. Das heisst, sie existieren nur aufgrund der Gnade und den Ressourcen, die sie aus Moskau bekommen. Auch wenn der Kreml dieser Tage nicht mehr so grosszügig ist wie früher.

Diese Fakten müssen wir uns wieder vor Augen führen, wenn uns Nachrichten wie diese erreichen: In der DNR, der sogenannten «Volksrepublik Donetzk», wurde einer der «Kommandanten», ein Mann namens Alexey Krivulyu, unter fadenscheinigen Gründen hingerichtet. Nun könnte man denken, dass die Hinrichtung einer solchen Elendsgestalt wie des genannten Kommandanten nicht weiter wichtig ist, doch sie verweist auf etwas anderes: Nämlich die totale Indifferenz der freien Welt, gegenüber dem, was östlich von Bug* und Dnjepr** geschieht. Einschliesslich der totalen Ignoranz gegenüber dem Fakt, dass in vier Entitäten immer noch Menschen hingerichtet werden und diese Entitäten keine Rechtsstaaten sind. Kommt dazu, dass nur eine Entität, nämlich Belarus, de jure ein souveräner Staat ist, und die anderen Entitäten nicht mehr als Kreml-Proxies sind, mit denen Russland seine Okkupation von georgischem respektive ukrainischem Gebiet kaschiert.

Weder Indifferenz noch die Ignoranz demgegenüber, was östlich des Bugs und der Dnjepr passiert, ist wirklich neu. Wie ich schon in früheren Beiträgen erinnert habe, schrieb Noe Jordania, der erste demokratisch gewählte Premierminister Georgiens das Folgende über Europa:

“Die europäische Gesellschaft ist müde, sie fühlt nicht mit dem Schmerz der anderen, sie erkennt den Schmerz der anderen nicht mal und sie kümmert sich nur um eine Sache: Unter ihresgleichen zu sein, friedlich, ohne Sorgen.»

Nun könnte man denken, dass die Schrecken durch die totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts die Europäer eines Besseren belehrt hätten, doch dem ist offensichtlich nicht so. Man lässt Putin auf der Krim, im Donbass und anderswo gewähren. Es ist deshalb kaum überraschend, dass sich auch der Teekessel-Diktator vom Bosporus, Recep Tayyip Erdogan und die Mullahs von Teheran dazu ermutigt fühlen, mit ihrer chauvinistischen und imperialistischen Politik fortzufahren, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Man denke nur an den Abschuss des ukrainischen Flugzeugs durch Revolutionsgarden und Erdogans kleines osmanisches Abenteuer in Libyen. Überall dort, wo die Zivilisation zurückweicht, gedeiht Regression und es ist besonders bitter, dass dies in den oben genannten Fällen auf europäischem Boden geschieht. Und es ist nochmals so schlimm, weil dies kaum jemanden in West- und Mitteleuropa interessiert. Stattdessen echauffieren sich vermeintliche Menschenrechtsaktivisten darüber, was ein Hinterbänkler in Israel gesagt hat, oder wenn ein Mörder in den USA die Todesstrafe bekommt. Das trotz der Tatsache, das man für lau nach Minsk fliegen könnte, um dort gegen das Elend in der Kolchose-Diktatur zu protestieren, wenn man denn wollen würde, denn Minsk liegt nur zwei Flugstunden von Berlin entfernt.

Aber man tut es nicht: Denn wie immer gilt «No Jews No News». Und diese Indifferenz und Ignoranz kombiniert mit dem Wiedergänger des Antisemitismus lässt die Menschen östlich des Bugs und der Dnepr zu den Vergessenen Europas werden, die, obwohl der «Eiserne Vorhang» und die Sowjetunion nun längst Geschichte sind, immer noch unter Russlands mehr schlecht als recht kaschiertem Imperialismus und Chauvinismus leiden. Marx sagte einst, dass die Geschichte sich wiederholen würde: zuerst als Tragödie und dann als Farce. Es ist eine Schande, dass im 21. Jahrhundert eine solche vom Kreml orchestrierte Farce unwidersprochen zugelassen wird.

*Der Bug ist ein Fluss in Polen, der Ukraine und Belarus, der traditionell Grenze zwischen den Katholiken im Westen und den orthodoxen Christen im Osten war.

**Die Dnjepr ist der drittlängste Fluss Europas, der durch Russland, Belarus und die Ukraine fliesst.

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Offener Brief an Mustafa Yeneroglu

Sehr geehrter Herr Yeneroglu

Heute durfte ich lesen, dass Sie aus der AKP ausgetreten sind, weil Sie keine Hoffnung mehr haben, dass Ihre parteiinterne Kritik von Erdogan und den Seinen gehört wird. Als ich das gelesen habe, war ich überrascht: Wie naiv muss man sein, um nach den Ergenekon-Prozessen, den Schauprozessen, bei denen Erdogan und die Seinen schon damals von einem Putsch faselten, den angeblich pensionierte Offiziere gegen die AKP geplant hatten und der sich am Ende in Nichts auflöste, und bei den Protesten rund um den Gezi-Park zu glauben, dass die AKP in irgendeiner Art und Weise reformierbar sei?!?

Schon damals konnte jeder, der nur über etwas politische Bildung verfügt sehen, dass über kurz oder lang Erdogan die Allianz mit dem Westen kündigen und zur Karikatur eines orientalischen Diktators werden wird, d.h. man konnte sehen, wohin die Reise geht. Ohne mich selbst loben zu wollen, aber ich habe schon 2018 in «Freiheit ist keine Metapher» geschrieben, dass die Türkei unter der AKP mit Hilfe von anderen gescheiterten Imperien, nämlich Russland und dem Regime der Islamischen Republik Iran Syrien so aufteilen werde, wie das Osmanische-, das Persische Reich und Russland anno dazumal den Kaukasus aufteilten.

Mir ist bewusst, dass Sie als Migrantenkind in Deutschland aufgewachsen sind und es bestimmt nicht immer leicht hatten und dass Ihre Qualifikationen, Ihre Fähigkeiten und Ihr Intellekt in Frage gestellt wurden. Auch mir ist sowas nicht unbekannt, ich bin Jüdin, meine Mutter ist ukrainisch-jüdischer und georgischer Abstammung und ich bin in der Schweiz aufgewachsen, als Kind mit Migrationshintergrund, was in den späten 90er Jahren noch anders war als heute. Ich kann verstehen, wenn man sich nach «dem anderen Land» sehnt, weil einem gesagt wird, dass man nicht hierhergehört, weil man niemals richtiger Schweizer/Deutscher/ Europäer wird, weil man kein Christ ist. Mir wurde schon x-mal von den genau gleichen Leuten, die mir meinen Intellekt absprachen gesagt, dass ich zurück in den Balkan soll, weil der Krieg dort vorbei sei, obwohl ich absolut nichts mit dem Balkan zu tun habe.

Allerdings muss ich Ihnen sagen, dass Sie trotz der Ressentiments und des Rassismus, denn Sie bestimmt, wie ich auch, erdulden mussten, absolut kein Recht haben, einen Teekessel-Diktator* wie Erdogan und dessen Regime zu verteidigen. Genau das haben Sie aber getan! Sie haben jahrelang einem menschenverachtenden Regime die Stange gehalten und für dieses Regime Propaganda betrieben. Sie sollten sich wirklich schämen.

Ja, die Türkei hat immer noch die Möglichkeit, eine solch starke Demokratie wie Deutschland, Schweden oder Norwegen zu werden, damit haben Sie vollkommen Recht. Allerdings muss die Türkei ihr Chauvinismus- und Irredentismus-Problem in den Griff bekommen und allem voran muss die Türkei endlich ein funktionierender Rechtsstaat werden. Das ist mit der AKP an der Spitze nicht möglich. Stattdessen drohen mit Erdogan und den Seinen weitere Eskalation, den Rojava war für den Diktator vom Bosporus nur der Anfang und er wird weitermachen, solange keine effektiven roten Linien gezogen werden.

*Ein Teekessel-Diktator ist ein diktatorischer Herrscher mit wenig politischer Glaubwürdigkeit, aber mit massivem Grössenwahn.