Der Irredentismus gescheiterter Imperien und europäische Indifferenz

Heute durfte man in verschiedenen Medien lesen, dass Xi Jinping, der Vorsitzende der kommunistischen Partei der Volksrepublik China dem demokratischen Rechtsstaat Taiwan, den die Volksrepublik als Teil Chinas sieht, mit gewaltsamer «Wiedervereinigung», also Okkupation gedroht hat.

Dies ist nicht weiter überraschend. Im Jahre 1923 appellierte Noe Jordania, der erste Premierminister der Demokratischen Republik Georgiens, der damals schon im Exil war, an Washington mit folgenden Worten:

«Im zwanzigsten Jahrhundert, vor den Augen der zivilisierten Welt, appelliere ich an das Gewissen der zivilisierten Staaten und aller aufrichtigen Menschen diese Barbarei und Unterdrückung und die Kriminellen, die diese Unterdrückung inspirieren und tätigen- Die Bolschewiken- zu verdammen.»

Sein Appel verhalte folgenlos und Georgien konnte erst 1991 wieder die Unabhängigkeit wiedererlangen.

Nun könnte man denken, dass die Schrecken durch die totalitäreren Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts die Europäer eines Besseren belehrt hätten, doch dem ist nicht so. Die Okkupation von Nord-Zypern durch die Türkei wird ignoriert, stattdessen kann man dort in den Casinos Bürger verschiedener westlicher Staaten beim Glücksspiel beobachten. Das trotz der Tatsache, dass Aktivisten wie Anastasios «Tassos» Isaac ermordet wurden. Auch dem Irredentismus von Russland wird kaum Beachtung geschenkt. Man hat es nicht getan wegen diesem Gebilde namens Transnistrien, das im Prinzip ein KGB-Mafia-Staat ist.
Man hat die Okkupation und Militarisierung von 20% des georgischen Staatsgebiets und die Entstehung der Kreml-Proxies Abchasien und der Zchinwali-Region/ Süd-Ossetien fast vollständig ignoriert. In diesen Proxies wird schon bald die Mehrheit der Bewohner russisches Militärpersonal sein, weil die georgische Zivilbevölkerung vertrieben wurde!
Und dann hat man Putin auf der Krim und in der Ost-Ukraine gewähren lassen.
Aber angefangen hat diese Gleichgültigkeit der Europäer für das, was am Rande Europas passiert schon früher. Auch dazu hat Noe Jordania, der übrigens Bücher über die Sowjetunion verfasst hat, in denen er den Sowjets vorwarf «Imperialisten unter der Maske von Revolutionären zu sein», etwas gesagt. Nämlich das Folgende:

“Die europäische Gesellschaft ist müde, sie fühlt nicht mit dem Schmerz der Anderen, sie erkennt den Schmerz der Anderen nicht mal und sie kümmert sich nur um eine Sache: Unter ihresgleichen zu sein, friedlich, ohne Sorgen..»

Aufgrund der europäischen Indifferenz, was Autokraten am Rande Europas und anderswo tun, ist es nicht weiter überraschend, dass sich nun Despoten wie Putin und Xi Jinping ermutigt fühlen dem Irredentismus zu frönen. Im Fall von Xi Jinping, in dem man der souveränen Nation Taiwan droht und bei Putin in dem man nun versucht die Souveränität von Belarus aufzuheben und Belarus in Russland zu «integrieren». Im Fall von Belarus, das heute leider die letzte Diktatur Europas ist, wo der Kolchose-Diktator Alexander Lukaschenko die Todesstrafe praktiziert, meldete sich jedoch der Oppositionsführer der «Hramada*», Nikolai Statkevich zu Wort. In der ukrainischen Fernsehsendung «Premier» drohte Statkevich, der aus Belarus zugeschaltet worden war, das «Belarus (für Russland) keine zweite Krim, sondern ein zweites Afghanistan wird.»

Damit spielte er auf die fast fünfhundert Jahre alte Partisanentradition der Belarussen an und die Tatsache, dass Afghanistan für Russland dasselbe war, wie Vietnam für die Amerikaner. Es ist bezeichnend, dass diese verzweifelte Reaktion auf den Neo-Imperialismus Russlands in Europa und anderswo kaum eine Reaktion hervorrufen wird, abgesehen von vielleicht ein paar lächerlichen Sanktionen. Aber genau dieser Indifferenz Europas ist es, die irredentistischen Despoten darin bestärkt nicht nur in ihren eigenen Ländern mit harter Hand zu herrschen, sondern auch andere, souveräne Staaten zu bedrohen und im schlimmsten Fall gar sich diese Staaten einzuverleiben oder Teile davon zu okkupieren. Dieses Laissez-faire und laissez-aller Europas im Angesicht von regressiven Ideologien, wie dem Irredentismus, muss deshalb aufhören, auch um die Würde und die Menschenrechte von Menschen am Rande Europas und ausserhalb nicht auf dem Altar des Irredentismus, der Indifferenz und der Regression zu opfern. Sonst behält der olle Marx am Ende doch noch recht, denn er schrieb einst: «Geschichte wiederholt sich, zuerst als Tragödie, dann als Farce.»

 

*Hramada ist Belarussisch und bedeutet «Versammlung», oft und auch in diesem Fall meint man damit die grösste, belarussische Oppositionspartei «die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Volksversammlung)»

Putin, die STASI und der mündige Bürger

Kürzlich wurde bekannt, dass der STASI-Ausweis von keinem geringeren als Wladimir Wladimoriwitsch Putin, dem jetzigen russischen Präsidenten, in einem Dresdner Archiv gefunden wurde. Die Boulevard- und einige seriöse Medien haben sich auf diesen «Scoop» gestürzt und auch Teile der Bevölkerung in vielen zivilisierten Staaten waren schockiert. Mich hat dieser Fund des STASI-Ausweises von Putin weder überrascht noch schockiert, denn Putin war Leiter des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB, bevor er zum Präsidenten von Russland gewählt wurde. Ja, meine Damen und Herren, das russische Wahlvolk wählte vor bald zwanzig Jahren den Leiter der Nachfolgeorganisation des KGB zu seinem Präsidenten. Die Folgen dieser verhängnisvollen Wahl dürften jedem bekannt sein, der gelegentlich Medien konsumiert und nicht unter einem Stein in Usbekistan haust. Aber ich nenne trotzdem gerne ein paar Stichwörter: Chodorkowski, Okkupation der Zchinwali-Region und der Krim, «Pussy-Riot» etc. Dies alles wäre einigermassen und vorhersehbar und verhinderbar gewesen, wenn man so etwas wie bürgerliche Kultur in Russland hätte und mündige Bürger sich bewusst gemacht hätten, zu was es führen würde, wenn man einen Mann zum mächtigsten Politiker macht, von dem nur bekannt ist, das er in St.Petersburg geboren und aufgewachsen war und dann jahrelang, zuerst dem KGB und dann dem FSB gedient hatte, bis er schliesslich an der Spitze von eben diesem FSB stand.

Mir geht es nicht darum irgendwelche Verschwörungstheorien oder Hirngespinste breitzuschlagen und so zu tun, als ob Putin die russisch-sowjetisch Version von James Bond gewesen wäre. Bei seiner Statur und seinen lächerlichen Fremdsprachenkenntnissen würde ich eher vermuten, das er seine Zeit bei der STASI, beim KGB und dem FSB in einer ähnlich armseligen Position verbracht hat, wie der fiktive STASI-Agent im deutschen  Film «Das Leben der Anderen».  Trotzdem finde ich persönlich es nicht gut, dass ein öffentliches Amt, wie das des Präsidenten mit einem Mann besetzt ist, der vom Prinzip her ein Enigma ist, weil seine Akte immer noch als «streng vertraulich» unter Verschluss gehalten wird. Aber das sieht das russische Wahlvolk offenbar anders, denn die einzigen Proteste, die in den letzten Jahren von breiten Schichten in der russischen Bevölkerung begrüsst und getragen wurden, waren die Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters. Nicht der Augustkrieg gegen Georgien, nicht die Invasion und Okkupation der Ost-Ukraine und der Krim, sondern die Erhöhung des Rentenalters. Eine Tragödie. Fast scheint es, dass es den russischen Bürger nicht sonderlich kümmert, was sein Staat, seine Regierung macht, so lange sein Wodka auf dem Tisch steht und er zeitig, mit sechzig Jahren, in Rente gehen kann. Dies lässt auf einen absoluten Mangel von politischem Bewusstsein eines mündigen Bürgers schliessen.

Denn und da sind sich die Wähler und Anhänger von Putin und Erdogan ähnlich: Es war von Anfang klar, dass man keinen Wolf im Schlafspelz wählt, sondern den Wolf ohne jegliche Verkleidung und es war auch von Anfang klar wohin die Reise gehen würde. Aber das war der Anhängerschaft dieser beiden Autokraten egal, so lange andere Personengruppen als Sündenböcke und Fussabtreter hinhalten mussten. Und so ist es notwendig, dass man auch die Bürger von Staaten wie Russland und der Türkei in die Verantwortung nehmen muss, denn Demokratie bedeutet nicht nur am Wahltag ein Couvert in die Wahlurne werfen zu dürfen, sondern auch das Bekenntnis zu einem Rechtsstaat, zu Gewaltentrennung und zur Wahrung von Menschen- Bürger- und Minderheitenrechten. Mit einer solchen Regierung und einem solchen Wahlvolk wundert es mich nicht, wenn Staaten wie Russland und die Türkei noch für ein paar Jahre Schwellenländer bleiben werden. Denn ohne funktionierenden Rechtsstaat gibt es in den seltensten Fällen wirtschaftlichen Aufschwung, oder irgendeine, denkbare Form von Progress. Stattdessen bleibt man im besten Fall in einem Sumpf von Elend stecken, oder gibt sich gar völlig dem Regress hin, wie in den oben genannten Staaten zu beobachten ist. In Russland feiert der russisch-orthodoxe Chauvinismus Urstände unter einem Ex-KGB-Apparatschik und in der Türkei wird die laizistische Republik Atatürks von Erdogan, einem Anhänger des Neo-Osmanismus, der mit der Muslimbruderschaft verbandelt ist, zu Grabe getragen. All das getragen von einem, im besten Fall, passiven Wahlvolk. Kurzum: Nicht der in einem Dresdner Archiv gefundene STASI-Ausweis von Putin, oder das Gedicht von Ziya Gökalp, dass Erdogan vorgetragen hat, sind die Probleme. Nein, sowohl der Ausweis wie auch das Gedicht symbolisieren viel mehr einen Mangel an Bürgerbewusstsein in Russland und der Türkei. Dieser Mangel ermöglichte es Autokraten, wie Putin und Erdogan Macht zu erlangen.